Nach der Verhaftung von Stam Swamy SJ kam es zu landesweiten Protesten.

 – Indien

Zum Staatsfeind gemacht

Diskriminierung von Minderheiten, Gewalt, Einschüchterung, Entrechtung sind die Folgen der „Hindutva“, des religiös verbrämten Rechtsnationalismus und neuen Leitmotivs indischer Innenpolitik. Auch jesuitische Einrichtungen sind im Fadenkreuz.

Klima der Angst und Gewalt

Über den schleichenden Werteverfall in der „größten Demokratie der Welt“ zu berichten, ist für eine europäische Hilfsorganisation mit Partnern und Projekten auf dem gesamten indischen Subkontinent ein heikles Unterfangen. Ein Projektpartner hat abgewunken, es sei zu gefährlich zu schreiben. Einige Dinge, die Angehörige von „niedrigen“ Dalit-Kasten – „Unberührbare“ – bei Projektbesuchen erzählen, klingen zunächst zu krass, zu anekdotisch, um exemplarisch für ganz Indien zu sein: Vertreibung, Gewalt, Brandschatzung und andere schlimme Verbrechen vor den Augen einer untätigen Polizei.

Sie sind es aber. Stichwort-Suchen im Internet dokumentieren fast täglich schockierende Übergiffe auf Dalits, Muslime, Christen und Menschen­rechtsaktivisten. 2018 zeigten sich die Vereinten Nationen „erstmals ernsthaft besorgt“ über die Entwicklung. Der lange Arm des Hindu-Nationalismus reicht gar bis nach Europa: Im vergangenen Jahr sah sich Saju George SJ, der „tanzende Jesuit“, nach einer Kampagne dazu gezwungen, Auftritte in Deutschland und Österreich abzusagen: Seine interreligiöse Interpretation des klassischen indischen Tanzes sei eine Beleidigung für rechtgläubige Hindus, war in sozialen Medien zu lesen.

Menschen­rechtler hinter Gittern

Ein Fall, der zum Politikum geworden ist, macht jetzt der Weltöffentlichkeit deutlich, wie sehr Pluralismus, Meinungsfreiheit und die säkulare Verfassung Indiens in Gefahr sind: Der 83-jährige Jesuitenpater Stan Swamy, seit Jahrzehnten leidenschaftlicher Anwalt für die Rechte der indigenen Adivasi, ist seit Oktober 2020 unter konstruierten „Terrorismus“-Vorwürfen inhaftiert.

Mit ihm sitzen im Hochsicherheitsgefängnis von Mumbai 15 weitere Menschen­rechtsaktivisten, Männer, Frauen, Intellektuelle, Künstler, Juristen, viele davon Hindus: Nicht nur Minderheiten mit eigenen, von der Mehrheitsgesellschaft abweichenden Identitäten, sind im Visier der Regierungspartei BJP, die seit 2014 mit Narendra Modi den Ministerpräsident stellt und landesweit Schlüsselpositionen besetzt, sondern auch jene, die für die Ausgegrenzten sprechen und ihre Rechte verteidigen.

Die Ideologie vom „wahren Inder“

„In der,Hindutva‘-Weltanschauung werden Muslime, Christen, Marxisten und diejenigen, die sich nicht dieser Ideologie anschließen, als Bürger zweiter Klasse behandelt, ohne Rechte und Privilegien, im Gegensatz zu jenen, die mit Hindutva konform gehen und sich so Machtpositionen und Einfluss sichern“, sagt der Jesuit Denzil Fernandes, Direktor des Indian Social Institute (ISI) in Neu Delhi. „Bürger, die diese Entwicklung öffentlich kritisieren, laufen Gefahr, als Staatsfeinde und Terroristen gebrandmarkt und vielleicht für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis gesteckt zu werden.“ Dieses Muster verbreite sich landesweit immer mehr, besonders in Regionen, in denen „Hindutva“-Ideologen an der Macht sind.

Hindutva ist ein Kampfbegriff, der nationale Identität untrennbar mit Hindu-Religion und -Kultur verknüpft. Ein „wahrer nder“ könne demnach nur jemand sein, der das Konzept der Hindutva teilt.

Identität jenseits der Kastengesellschaft

Ein Dilemma für Dalits und die Adivasi, Angehörige indigener Stämme in vielen Landesteilen Indiens: Sie rangieren auf der untersten Stufe der strengen traditionellen Kastengesellschaft. Schon mit der Geburt werden ihnen niedrige Arbeiten und miserable Lebensbedingungen zugeteilt. Auch Landrechte von Adivasi werden zunehmend ignoriert. Die gnadenlose Ausbeutung ihrer Heimatregionen – ob für den Abbau von Sand in Maharashtra oder von Mineralien in Jharkhand – bringt die Zerstörung der Umwelt und die Vertreibung der Menschen mit sich.

Kein Wunder also, dass viele Dalits und Adivasi, die schon seit Generationen marginalisiert werden, das Hindutva-Primat der herrschenden Klasse ablehnen.

Gefährlicher Einsatz

Immer mehr von ihnen suchen eine Identität als indische Bürger jenseits der Kastengesellschaft, fordern Gerechtig­keit im Sinne der Gründerinnen und Gründer der indischen Demokratie.

Einer von ihnen war Bhimrao Ramji Ambedkar (1891-1956), Rechtsanwalt, Politiker, Sozialreformer – und als Angehöriger der Mahar ein geborener Dalit. Nach ihm ist die „Dr. Ambedkar Cultural Academy“ (DACA) in Südindien benannt: eine jesuitische Einrichtung, die zahlreiche Lernzentren und Abendschulen in einer Reihe von Distrikten betreibt, wo insbesondere Mädchen der Zugang zu Schulbildung verwehrt bleibt.

Viele unserer Partner auf dem Subkontinent arbeiten in ihren Projekten für und mit Dalits und Adivasi, im Bildungsbereich, aber auch im Einsatz für ihre politischen und gesellschaftlichen Rechte als Bürger Indiens. Wie Stan Swamy, der am 8. Oktober wegen angeblicher „staatsfeindlicher Aktivitäten“ verhaftet wurde und seitdem auf seinen Prozess wartet. Der zynische Umgang mit dem 83-jährigen, an Parkinson erkrankten Jesuitenpater zeigt, wie gefährlich es in Indien sein kann, sich für Minderheiten stark zu machen.

Jesuiten im Visier der Behörden

Die Vorgeschichte des Falls Swamy geht zurück auf den 1. Januar 2018, als es im gesamten Bundesstaat Maharashtra zu Gewalt gegen Dalits kam. Ein Dalit-Jugendlicher starb, unzählige Dalits wurden verletzt. Obwohl alle Beweise darauf hindeuten, dass Hindu-Nationlisten für den Gewaltausbruch verantwortlich sind, wurden in den folgenden Monaten insgesamt 16 Personen verhaftet, darunter die Menschen­rechtsanwälte Arun Ferreira und Sudha Bharadwaj, die Schriftsteller Vernon Gonsalvez und Varavara Rao – und Pater Swamy. Allen wird vorgeworfen, in Zusammenarbeit mit linksextremen Kräften für den „Aufstand“ der Dalits verantwortlich zu sein.

Wie tief die Risse in der Fassade der indischen Demokratie sind, bekommt in seiner täglichen Arbeit auch Owen Chourappa SJ zu spüren: „Ich stehe ganz persönlich im Visier der Behörden.“ Mit seiner Menschen­rechtsorganisation Legal Cell for Human Rights (LCHR) in Assam im äußersten Nordosten Indiens kämpft er für die Rechte indischer Bürger, die durch eine neue Gesetzgebung ihre Staats­bürgerschaft verlieren könnten, meist aufgrund ihres muslimischen Glaubens.

Seit 2015 haben Juristen der LCHR knapp 700 Personen vor Gericht vertreten und organisieren Info-Kampagnen für Betroffene. „Bei Veranstaltungen ist es schwierig, Unterkünfte für unsere Mitarbeiter zu organisieren“, berichtet er – aus Angst vor Repressalien seien nicht viele Menschen bereit, sie aufzunehmen.

NGOs werden handlungsunfähig

Nicht nur auf dem Land, sondern auch in der Hauptstadt sind Kritiker der Regierungslinie im Fadenkreuz: „Ich bin schon oft mit Diskriminierung konfrontiert worden“ berichtet Denzil Fernandes SJ: „Nicht weil ich Christ bin, sondern weil ich soziale Aktivisten und Organisationen unterstütze, die sich für Randgruppen einsetzen.“ Neben persönlicher Alltagsschikane durch die Behörden stehen NGOs und unabhängige Think Tanks auch auf institutioneller Ebene unter Beschuss.

Im September 2020 hat die indische Regierung die Bankkonten der Menschen­rechtsorganisation Amnesty International eingefroren und sie damit handlungsunfähig gemacht. „Das ISI wurde früher als sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut mit öffentlichen Geldern unterstützt“, berichtet Pater Fernandes, „doch 2017 wurden auf einmal die Regeln geändert und wir bekommen nichts mehr.“

Zeichen der Hoffnung

Kann in diesem Klima der Angst und Spaltung die Zivilgesellschaft das Ruder herumreißen und die Werte der Verfassung – Inklusion, Vielfalt, Pluralismus – retten? „Es gibt Zeichen der Hoffnung“, sagt Owen Chourappa SJ: etwa dass im Bundesstaat Telangana eine parlamentarische Resolution verabschiedet wurde, um den traditionellen „Sarna“-Glauben von Adivasi-Stämmen als offizielle Religionsgemeinschaft anzuerkennen. Die Rückkehr zur Demokratie starte von unten: „Wir müssen mit Graswurzel- Bewegungen nach oben dringen“, ist er überzeugt, „indem die Zivilgesellschaft den Armen „eine ideologische und intellektuelle Basis gibt“, um Wandel herbeizuführen.

„Wir brauchen ein breites Bündnis aus Adivasi, Dalits, Angehörigen benachteiligter Klassen, Minderheiten, Bauern, Gewerkschaftern und anderen Gruppen“, ergänzt Denzil Fernandes, „eines, das frei von parteipolitischen Interessen ist, damit es keine ideologischen Barrieren gibt.“ Es geht um den Schutz der Grundpfeiler der indischen Demokratie, darum, „mittels Vernunft für die in der Verfassung verankerten Rechte unserer säkularen Republik zu streiten“, sagt Pater Chourappa: „Freiheit, Gleichheit und Gerechtig­keit.“

Steffen Windschall


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